Experteninterview mit Prof. Jens Krause und Prof. Marcel Brass
Maskenverweigerung, gewalttätige Corona-Proteste, der Sturm auf das Capitol in Washington – es gibt einige aktuelle Beispiele für das kollektive Regelbrechen. Jens Krause, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU Berlin) und am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), hat gemeinsam mit Marcel Brass, Einstein Professor für soziale Intelligenz an der HU Berlin, in der Fachzeitschrift Trends in Cognitive Science eine Übersichtsstudie über den sozialen Einfluss von Regelverstößen veröffentlicht. In einem Interview erläutern die beiden Forscher, warum Regelbruch ansteckend ist und wie man das Wissen darüber nutzen kann, um ihn zu verhindern.
Herr Krause, Sie sind Verhaltensökologe und untersuchen kollektive Entscheidungen, soziale Netzwerke und Schwarmverhalten. Im Schwarm verhält sich die Mehrheit konform. In ihrem Artikel schreiben Sie, das kollektive Regelbrechen sei auch eine Form von sozialer Konformität. Warum?
Genau, beim kollektiven Regelbrechen wirken oft die gleichen kognitiven und psychologischen Mechanismen, die auch bei der gemeinschaftlichen Einhaltung von Regeln wirken. Es sind also zwei Seiten einer Medaille.
Wir bleiben beispielsweise an einer roten Ampel stehen, weil alle anderen stehen bleiben und wir überqueren möglicherweise die Straße trotz roter Ampel, weil andere das auch tun.
Sie haben sich vor allem auf die kognitiven Prozesse fokussiert. Was geht in unserem Kopf vor, wenn wir Grenzen überschreiten?
Ja, es ist verrückt, manchmal tun Menschen in Gruppen Dinge, die ihnen alleine nie im Traum einfallen würden – und das nicht nur, um soziale Anerkennung zu erfahren. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass von der kognitiven Seite her vor allem drei Prozesse wichtig sind: Ablenkung, Nachahmung und Änderung der Bewertung.
Und das heißt genau?
Mit Ablenkung ist gemeint, dass die individuelle Aufmerksamkeit von der Regel auf die Reaktion der anderen gezogen wird. Die Gruppe beeinflusst die Wahrnehmung und lenkt die Aufmerksamkeit. Ein solcher Einfluss kann die Informationsgrundlage für die Entscheidung des Einzelnen bilden, im Einklang mit der Gruppe zu handeln. Wenn wir eine rote Ampel überqueren, weil andere das auch tun, sind wir möglicherweise durch die Gruppe so abgelenkt, dass wir die Ampel nicht beachten. Mithilfe von Entscheidungsmodellen, die eine Zerlegung verschiedener Entscheidungskomponenten ermöglichen, kann gezeigt werden, dass Gruppen die Informationen beeinflussen, die Menschen aus der visuellen Szene entnehmen. Wenn das, worauf der Einzelne achtet und was er wahrnimmt, mit der Gruppe übereinstimmt, steigt die Wahrscheinlichkeit, der Gruppe zu folgen. Bei einer Demonstration kann die Entscheidung eines Einzelnen, sich der Gruppe anzuschließen, also beispielsweise davon abhängen, ob seine Aufmerksamkeit auf aggressive oder deeskalierende Polizeimaßnahmen gelenkt wird.
Herr Brass, Sie sind Neurowissenschaftler, interessieren sich für die motorische und kognitive Kontrolle des Verhaltens und untersuchen die Mechanismen, die der menschlichen Willenskraft zugrunde liegen. Spielen Nachahmungseffekte beim kollektiven Regelbruch auch eine Rolle?
Nachahmungseffekte beschreiben das Phänomen, dass Menschen bestimmte Handlungen ausführen, weil andere sie auch ausführen – es ist ein motorisch-kognitiver Mechanismus. Verhaltensexperimente und Bildgebungsverfahren der Gehirnaktivität zeigen, dass die Beobachtung des Verhaltens anderer beim Beobachter eine Tendenz zur Nachahmung einer entsprechenden Reaktion auslöst. Bei diesem Phänomen spielen wahrscheinlich Spiegelneuronen eine Rolle. Diesen Nachahmungseffekt möchte ich wieder am Beispiel der roten Ampel erläutern: Fußgänger laufen los, weil die anderen loslaufen. Die mathematische Modellierung dieses Effekts ergab, dass die Wahrscheinlichkeit mitzulaufen um das doppelte erhöht ist, wenn die neben uns stehende Person losläuft. Es gibt übrigens auch das gegenteilige Phänomen, den sogenannten Bystander-Effekt, die Gaffer, die bei einem Unfall herumstehen und nichts tun – der Einzelne erstarrt, weil die Gruppe um einen herum auch nichts tut.
Wie kann man ein solches Verhalten erklären? Mir fällt da gleich die abfällige Bemerkung: „Wie die Lemminge“ ein.
Haha, tatsächlich tut man den Lemmingen damit unrecht. Der Mythos vom freiwilligen Massenselbstmord wurde insbesondere durch den Disney-Film „Weiße Wildnis“ von 1958 geprägt. In einer gefälschten Szene wird dargestellt, wie Lemminge sich kollektiv über eine Klippe ins Meer stürzen. Dies gilt seitdem als Inbegriff für ein Verhalten, unreflektiert das zu tun, was alle tun.
Die Tendenz, Verhaltensweisen nachzuahmen, lässt sich – wie am Ampel-Beispiel bereits ausgeführt – messen. Zusätzlich ist gezeigt worden, dass die Ansteckungsgefahr des Regelbruchs mit der Gruppengröße zunimmt. Dies konnte auch in Laborexperiment gezeigt werden: Bei einer sogenannten Interferenzaufgabe müssen die Teilnehmenden eine vorgegebene Regel befolgen, um eine von zwei einfachen Bewegungen auszuführen – sie müssen beispielsweise nach rechts schauen, wenn sie einen Knall hören und nach links schauen, wenn sie das Zerspringen von Glas hören. Gleichzeitig sehen sie eine Gruppe das Gleiche, Kongruente tun. Also auch nach links schauen, wenn die Versuchsperson nach links schauen muss. Oder sie sehen, wie eine Gruppe etwas anderes, Inkongruentes tut. Also nach rechts schauen, wenn die Versuchsperson nach links schauen muss. Bei kongruenten Versuchsdurchgängen sind die Personen in der Regel schneller und genauer bei der Umsetzung der angewiesenen Regel als bei inkongruenten Versuchsdurchgängen. Man geht davon aus, dass dieser Kongruenzeffekt eine Art unbewusste, automatische Nachahmung widerspiegelt, die die Grundlage der offenen Nachahmung bildet. Und die automatische Nachahmung nimmt mit der Größe der Gruppe entsprechend einer asymptotischen Kurve zu. Das heißt, dass der Effekt erst steil mit der Größe der Gruppe zunimmt, aber dann mit steigender Gruppengröße nicht mehr so stark zunimmt.
Was ist das „Problematische“ an diesem Verhalten?
Hmm, zum einen natürlich, dass es eben unbewusst, automatisch geschieht. Zum anderen der dritte Aspekt der kognitiven Seite von Konformität, wie oben erwähnt: die Änderung der Bewertung des eigenen Verhaltens. Wir deuten die Situation aufgrund des Verhaltens der Gruppe um. Wie Bewertungsprozesse zu Konformität führen können, ist in den kognitiven Neurowissenschaften ausführlich untersucht worden. Das lässt sich auf zwei Gründe herunterbrechen, warum Menschen konform gehen: Wir empfinden einen Konflikt mit der Gruppe als negativ und erleben es andererseits als positiv, wenn wir gemeinsam mit der Gruppe handeln. Was den negativen Affekt betrifft, so hat die Forschung gezeigt, dass eine andere Meinung als die der Gruppe ein Konfliktsignal im Gehirn auslöst, dessen Ausmaß vorhersagt, inwiefern Menschen anschließend ihre Meinung ändern. Wichtig ist auch, dass die Erkenntnisse darauf hindeuten, dass solche Verhaltensänderungen echte Veränderungen in der Bewertung widerspiegeln. Wir tun also nicht nur so, als würden wir uns anders entschließen, sondern wir passen tatsächlich unsere Entscheidungsgrundlage für unser Handeln an. Zweitens haben Studien in Bezug auf positive Affekte gezeigt, dass Konformität an und für sich als belohnend empfunden wird. Die Forschung deutet also darauf hin, dass affektive Prozesse eine wichtige Rolle dabei spielen, warum Menschen sich entscheiden, sich der Gruppe anzupassen.
Nun gibt es beim Regelbrechen ja verschiedene Grade – bei Rot über die Ampel gehen ist eine Sache. Wie und warum kann aber eine Situation von einem Protestverhalten zu einer gewalttätigen Aktion kippen, Herr Krause?
Es ist tatsächlich eine Debatte, bei der sich Forschende noch uneins sind. Ein Ansatz ist, dass die Prädispositionen eine wichtige Rolle spielt – dass kollektive Gewalt ein Ergebnis der Zusammenkunft von Individuen ist, die Gewalt suchen, wie Hooligans. Die andere Seite argumentiert, dass obwohl solche Gewaltbereitschaft häufig vorkommt, es dann meist doch nicht zu Gewaltausbrüchen kommt. Zunehmende Bedeutung wird den „unterstützenden“ Verhaltensweisen beigemessen, die der eigentlichen Gewalt vorausgehen, wie Rufe und Gesten, sowie der Interaktionsdynamik zwischen den Teilnehmenden, oder Drohgebärden der anderen Gruppe und Umdeutungen der Gruppenmitglieder aufgrund dieser Interaktionsdynamik. Aktueller wissenschaftlicher Konsens ist, dass die situative Gruppendynamik für den Ausbruch von Gewalt zumindest notwendig und manchmal sogar ausreichend ist, während Hintergrundfaktoren wie gewalttätige Motivationen Einzelner als Risikofaktor für Gewalt angesehen werden.
Was bedeutet diese Kenntnis für Präventions- und Interventionsmaßnahmen?
Nun, am Beispiel der Ausschreitungen bei Fußballspielen: Stadionverbote für bekannte Unruhestifter sind sicher hilfreich, können aber möglicherweise keine gewalttätigen Auseinandersetzungen verhindern.
Die schlechte Nachricht ist, dass die situative Gruppendynamik bisher schwierig vorherzusagen ist. Die gute Nachricht hingegen: Wir wissen nun besser, worauf es zu achten gilt und verfügen über die entsprechenden Hilfsmittel. GPS-Daten können anzeigen, wo Menschen besonders dicht zusammenstehen, Kameras können Drohgebärden und Gesichtsmimiken einfangen. Wir werden also in Zukunft Methoden entwickeln können, die Vorort relativ schnell eine Einschätzung über die Entwicklung einer Situation ermöglichen. Außerdem zeigen die Forschungen auch, dass der Trend hin zu deeskalierendem Verhalten von Polizei und Sicherheitskräften auf jeden Fall der richtige Ansatz ist, um das Gewaltrisiko zu verringern.
In ihrer Rolle als Ökologe, ist der Regelbruch auch im Naturschutz ein Problem?
In der Tat! Und sie untergräbt, dass die ökologischen Ziele erreicht werden. Leider gibt es da eine Forschungslücke. Das ist kein Wunder, weil mehrere soziale und ökologische Variablen das menschliche Verhalten beeinflussen, und das oft an abgelegenen, unterbesiedelten und schwer zugänglichen Orten. Es gibt als bisher kaum fundierten Vorschläge, wie man die Einhaltung der Vorschriften in Naturschutzgebieten steuern kann. Durch den Einsatz von Kameras und die gezielte Beobachtung problematischer Gebiete, in denen Wanderer vom Weg abkommen oder Müll hinterlassen, könnten Forschende allerdings in Zukunft Daten mit ausreichend hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung sammeln, um die Muster der Nichteinhaltung von Gruppen in Nationalparks zu bewerten und so Prognosemodelle für Routen und Patrouillenzeiten der Parkwächter zu erstellen. Ähnliche Ansätze könnten bei illegalen Jägern oder Fischern innerhalb von Schutzgebieten erforscht werden.
Eine letzte Frage: Sie beschäftigen sich mit dem Schwarmverhalten und kollektiven Entscheidungsprozessen bei Tieren. Wie ähnlich sind sich Mensch und Tier, gibt es auch bei Tieren den kollektiven Regelbruch?
Bei Tieren verläuft die Entscheidungsdynamik von Gruppen wie bei Menschen oft nichtlinear über Quoren: Sobald eine bestimmte Anzahl, oder ein bestimmter Prozentsatz, von Individuen ein bestimmtes Verhalten zeigt, wird es schnell von anderen übernommen. Nun gibt es bei Tieren ja keine Regeln im klassischen Sinne. Aber auch bei ihnen kommt Gruppenverhalten vor, das eigentlich einen Nachteil oder sogar eine Gefahr für das Individuum bedeutet. Ein Beispiel: Wir konnten mit einem Roboterfisch zeigen, dass sich ein Fischschwarm durch den Anführer und das von ihm induzierte Gruppenverhalten tatsächlich in die Nähe eines Raubfisches führen lässt – eine Gefahrensituation, in die sich ein einzelner Fisch nicht begeben hätte. Fische im Teich und Menschen an Ampeln sind sich mitunter also gar nicht so unähnlich.
Nadja Neumann Kommunikation und Wissenstransfer
Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
Originalpublikation:
Jens Krause, Pawel Romanczuk, Emiel Cracco, William Arlidge, Anne Nassauer, Marcel Brass: Collective rule-breaking, Trends in Cognitive Sciences, Volume 25, Issue 12, 2021,
Pages 1082-1095, ISSN 1364-6613.
https://doi.org/10.1016/j.tics.2021.08.003