Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt

10 Mrz

Die Innovationskraft von gemeinwohlorientierten Organisationen

Eine Buchrezension von Loring Sittler

Buchcover

Rolf Heinze legt mit seinem neuesten Buch eine umfassende und detaillierte Analyse der realen gesamtgesellschaftlichen Ausgangslage und der dort bereits stattfindenden Wandlungsprozesse vor – bis hinein in die Coronapandemie. Die engagierten Vertreter der anstehenden großen Transformation aus allen Sektoren dürfte sein Werk begeistern, die Vertreter des Status Quo eher verstören. Sein Hauptaugenmerk legt Heinze – wie seit Jahren – auf den bereits sichtbaren Wandel der Funktion des Staates: „Gesellschaftsgestaltung wird nicht mehr Top-Down erfolgen, sondern sich stärker auf die Eigenlogiken und Ressourcen der gesellschaftlichen Funktionssysteme beziehen.“ (S.19) Heinze entwickelt „ein neues sozial- bzw. gesellschaftspolitisches Handlungs- und Gestaltungskonzept“ (S.35) und setzt dabei auf die „Selbstorganisationskräfte der Subsysteme“ (S.19). Dabei betont er: „Die Neujustierung von Gestaltungsstrukturen zielt nicht auf eine völlige Umsteuerung, sondern setzt auf eine neue Komplementarität zwischen den verschiedenen Steuerungsformen.“ (S.33) Er warnt aber immer wieder vor absehbaren Widerständen: „Es wird sich zeigen, dass es nicht automatisch zu einer positiven Koordination der Akteurssysteme kommt, durchaus abgekoppelte Versäulungen fortbestehen und deshalb ein systematisches Schnittstellenmanagement erforderlich ist.“ (S.69) Folgerichtig spricht er in diesem Zusammenhang von „Defensivtaktik“ der Politik und von „Zeitlupentempo.“ (S.85) Und dies alles trotz der bekannten demografischen Herausforderungen, die „grundlegende Strukturreformen notwendig“ machen. Heinze: „Die Diskussion darüber wird aber nicht offen geführt.“ S.50 Stattdessen konstatiert er in Übereinstimmung mit anderer wissenschaftlicher Literatur: „An Stelle einer formalen Rangordnung haben sich wechselseitige Abhängigkeits- und Kooperationsverhältnisse etabliert, die in der Literatur als neokorporatistische Verflechtungen gekennzeichnet wurden.“ (S.111)

In einem eigenen Kapitel beschreibt er ausführlich die „wesentliche Steuerungsressource“ und Potenziale der diversen zivilgesellschaftlichen Akteure, konzentriert sich im darauffolgenden Kapitel auf „Selbstorganisation und dezentrale Allianzen“. Er leitet aus der „geschrumpften Handlungsfähigkeit“ oder dem konstatierten „tendenzielles Politikversagen“ (S.51) und aus einer scharfen Kritik am (seit Corona verstärkten) „Neo-Dirigismus“ (S.62) ab, dass der Staat „vermehrt auf die Koproduktion und selbstverantwortliche Eigenleistung individueller wie kollektiver gesellschaftlicher Akteure angewiesen“ (S.34) ist. Das wird in einem eigenen Kapitel am Gesundheitssektor eindrücklich illustriert. Dabei wird die „Vorrangstellung“ (S.102) der Wohlfahrtsverbände anerkennend, aber auch sehr kritisch beleuchtet: Ihre weitgehend fehlende Innovationsbereitschaft und vor allem die mangelhafte Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren bremst den „Wandel zu einem hybriden Wohlfahrtsmix“ (S.35) weitgehend aus.

In einem weiteren Kapitel stellt Heinze zu Recht fest, dass die „Spezifika der deutschen Solidarökonomie bzw. der gemeinnützigen sozialen Infrastruktur bislang nicht hinreichend wahrgenommen wird“ und dass „die real existierenden dezentralen Selbstorganisationsformen jenseits von Markt und Staat kaum reflektiert“ werden. (S.64) Auch deswegen veranschaulicht er die zunehmende gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung sowie die Wertegrundlage der Genossenschaften sowie ihre den aktuellen Erfordernissen gut entsprechende demokratische Organisationsform sehr präzise mit vielen Fakten und Beispielen. Er bezieht sich dabei auf die neuere sozialwissenschaftliche Forschung: Diesen „Netzwerken, die auch als Koordinationsform jenseits von Markt und Hierarchie betrachtet werden, kommt im Innovationsgeschehen eine herausragende Bedeutung“ zu (S.33) „Eine intelligente staatliche Politik würde heute in diesem Sinn auf eine zivilgesellschaftlich untermauerte Governance netzförmiger Verhandlungs- und Leistungssysteme auf dezentraler Ebene setzen.“ (S.36) Er hebt allerdings auch hervor, dass „die Leistungspotenziale aus dem zivilgesellschaftlichen Sektor nur entfaltet werden können, wenn die öffentlichen Infrastrukturen Unterstützungsangebote bieten.“( S.90) Zu den Vorteilen und Bedingungen einer solchen Entwicklung gibt Heinze zu bedenken: „Macht sich die Arbeits- und Sozialpolitik die Förderung von Arbeit jenseits von Markt und Staat zu eigen, wagt sie sich auf bislang kaum begangene Pfade. Allerdings könnte am Ende des Weges ein zusätzlicher Wohlfahrtsgewinn entstehen. … Allerdings gilt es über geeignete staatliche Unterstützungsangebote abzusichern, dass sie auch den notwendigen Anforderungen an Sicherheit und Qualität entsprechen.“ (S.97) So „könnten ‚im Schatten‘ strategische Lösungen für selbststeuernde Gemeinschaften (wie Bürger- und Energiegenossenschaften, Freiwilligenagenturen, Dorfläden und Quartiersbüros, Mitmachhäuser, Bürgerstiftungen etc.), die insgesamt dem sozialen Wandel ein neues Gesicht geben“ (S.135/136) entstehen – eine konkrete Utopie, die Mut macht!