KASPAR – ein Sprechstück von PETER HANDKE am Berliner Ensemble
Der Geruch von frischem Tannenholz und Lack erfüllt den Pavillon des BE und der Blick in den abgedunkelten Raum schweift über einen Berg von Tischen – getürmt, gewürfelt und verschachtelt. Umgeben von einer Sitzrunde aus 100 nackten Holzstühlen, auf denen die Zuschauer ihr Sitzfleisch trainieren. Karg halt. Das kongeniale Bühnenkonzept entwarf Johannes Schütz.
Inmitten des Holzhaufens taucht langsam eine Hand auf und die Tische beginnen, sich schabend und knarzend zu bewegen. Dann ein Arm und ein Schuh – in Zeitlupe gefolgt von einem Bein. Am Ende steht ein ganzer Mensch zwischen dem Gewirr aus Holz-Tischbeinen. Kaspar im Feinripp-Unterhemd, schwarzer Hose und Hipster-Wollmütze.
Ein Satz erfüllt den Raum, zunächst kaum hörbar, fast zärtlich, dann anschwellend bis hin zum Schrei: „Ich möcht ein solcher werden wie einmal ein andrer gewesen ist.“ Dieser Satz bestimmt für 20 Minuten die Szene, bis plötzlich einer der Zuschauer sich verbal einmischt – einer von 6 „Einsagern“, die mit Zurufen, Satzpassagen und Chorfragmenten eine dialogische Struktur des Textes entwickeln.
Sehr hautnah und ergreifend wird die sprachliche Entwicklung des Kaspar Hauser von 1828 nachvollziehbar, die Peter Handke Ende der 60er Jahre in seinem Sprechstück niederschrieb. Er sieht KASPAR als „ mythische Figur, nicht nur interessant schlechthin, sondern ein Modell von Menschen, die nicht zurecht kommen mit sich selber und der Umwelt, die sich isoliert fühlen. Er hat mich sehr fasziniert.“ (Programmheft Nr. 168 zur Premiere am 21.2.2015) Für Handke war die Arbeit am Text KASPAR seine Initiation als Theaterautor. Ihm ging es nicht darum, die Wirklichkeit im Nacherzählstrang abzubilden, sondern mit den Wörtern und Sätzen der Wirklichkeit zu spielen. Für ihn stellen sich Fragen wie:
- Wie redet man miteinander ?
- Wie wird mit Reden Macht ausgeübt ?
- Wie wird jemand durch Sprechen zum Sprechen gebracht ?
- Wie ist das Verhältnis von Konstruktion, Konkretion und Abstraktion?
Der junge Regisseur Sebastian Sommer inszeniert das Handke Stück wie einen Ordnungsversuch, sich über Sprache Welt anzueignen.
Zunächst über Wortfetzen, einzelne Worte, Satzfragmente bis hin zu ganzen Sätzen.
Parallel dazu lässt er den Schauspieler Jörg Thieme sich an dem Tischgewirr abarbeiten, über gewagte Satz- und Tischkonstruktionen klettern und diese in einem Akt von Ordnungswahn zu einer zweiten Bühne aufbauen.
Eine sichtbare Metaebene entsteht, zu der sich zunächst die anderen 6 KollegInnen gesellen, und nach und nach Dreiviertel der Zuschauer von KASPAR an die große Tafel geladen werden.
Eine geniale Spielidee, die fulminant durch den athletischen und sprechakrobatischen Protagonisten und seine Mitstreiter umgesetzt wird.
Erneut ein Theaterabend am Berliner Ensemble, der magnetisch anziehend wirkt und die Zuschauer definitiv in seinen Bann gezogen hat. Man bekam direkt Lust, mit zu spielen.
Mit: Jörg Thieme (Kaspar), Claudia Burckhardt (Einsager), Ursula Höpfner-Tabori (Einsager), Boris Jacoby (Einsager), Nadine Kiesewalter (Einsager), Marko Schmidt (Einsager), Thomas Wittmann (Einsager)
Regie: Sebastian Sommer
Bühne und Kostüme: Johannes Schütz
Dramaturgie: Steffen Sünkel
Licht: Ulrich Eh
Sounddesign: Knut Jensen
Dauer: ca. 1h 30 Minuten (keine Pause)
Eine sehr schöne Beschreibung. Steht ganz oben auf meinem Theater-Besuchs-Plan.
Danke
Diese Besprechung gefällt mir sehr gut. Da bekomme ich rihtig Lust uf einen Theaterabend mit meiner Freundin.